Jedes einzelne Schicksal zählt

Cottbus / Chóśebuz, 29. Dezember 2017. Tief in der Nacht hat sich Sylvia Wähling die nachstehende Geschichte von der Seele geschrieben. Sie ist Geschäftsführende Vorsitzende des Menschenrechtszentrum Cottbus e.V. und Leiterin der Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus auf der Bautzener Straße 140 in 03050 Cottbus. Über die Webseite ist sie erreichbar.
Abbildung: Sylvia Wähling beim Besuch im Flüchtlingslager

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Die Geschichte der beiden jesidischen Mädchen Hoche und Sadina

Von Sylvia Wähling. Es war der 3. August 2014, ein heißer Sommertag im Irak. Der sogenannte Islamische Staat (IS) griff mit brutaler Gewalt das Sinjar-Gebirge, auf Kurdisch Schingal, an, das Stammgebiet der Jesiden. Jesiden sind keine islamische oder christliche Richtung, sondern eine eigene Jahrtausende alte kurdische Religionsgemeinschaft, die von den IS-Verbrechern als "Teufelsanbeter" bezeichnet werden, weswegen sie konvertieren oder sterben sollten. Tausende wurden getötet und Hunderttausende flüchteten in Richtung irakisches Kurdistan. Zudem starben, verdursteten und verhungerten Tausende unterwegs in diesen heißen Augusttagen. Die, die es nach Kurdistan schafften, leben seit dreieinhalb Jahren unter erbärmlichen Verhältnissen als Binnenflüchtlinge in den 23 Lagern der Provinz Dohuk oder auch in wilden Lagern, d.h. in Baustellen, unter Brücken, sogar in Friedhöfen. Es sind 400.000 Jesiden unter den anderthalb Millionen Flüchtlingen, für die Kurdistan als Zufluchtsort dient. Manche Lager sind so groß wie Kleinstädte, die mit allem, was der Mensch braucht, versorgt werden müssen. Ein bewundernswerter Kraftakt für ein kleines, armes und bisher im Krieg befindliches Gebiet wie Kurdistan, das selbst nicht mehr als fünf Millionen Einwohner hat.

Die IS-Verbrecher haben aber auch 6.417 namentlich bekannte Geiseln als Sklaven genommen – Frauen, Männer und Kinder. Ihre Erlebnisse sind für die zivilisierte Welt kaum fassbar. Frauen erlebten, wie ihre Söhne, Männer und Brüder vor ihren Augen bestialisch enthauptet wurden. Jungs werden zu IS-Kämpfern ausgebildet, Babys den Müttern weggenommen, Frauen und Mädchen versklavt, zwangsverheiratet, vergewaltigt und für wenig Geld freitags nach dem Moscheebesuch wie Vieh verkauft.

So erging es auch der 21-jährigen Hoche und ihrer Schwester, der 13-jährigen Sadina. Die gesamte Familie wurde entführt. Ihre Mutter wurde nach einem Jahr Gefangenschaft beim IS befreit, der Vater und die sieben Kinder mussten noch weitere Jahre Gefangenschaft aushalten. Vom Schicksal des Vaters und von dreien der Kinder ist nichts bekannt. Man weiß weder ob sie leben, noch wo sie sein könnten. Schließlich ist der IS fast besiegt. Schleppen sie ihre Sklaven beim Rückzug immer mit? Hoche ist erst vor 20 Tagen von ihren Verwandten freigekauft worden. Sadina schaffte den Weg in die Freiheit alleine. Jetzt leben sie mit 14.214 anderen Jesiden im Lager Esyan, in der Nähe der Provinzhauptstadt Dohuk. Eine Woche lang lagen sie in ihrem Zelt einfach so rum – erschöpft und nicht in der Lage zu sprechen. Sie haben nur geweint. Jetzt kommen sie allmählich zu sich und sprechen bei Nachfrage über ihre schrecklichen Erlebnisse.

Hoche spricht ziemlich selbstbewusst. Sie wirkt nach außen nicht gebrochen. Nur ihre Seele kann aber nicht vergessen, dass sie, meistens freitags, 20 Mal an Männer aus Ägypten, Syrien, der Türkei und Algerien verkauft wurde. Der älteste Mann, der sie als Sexsklavin kaufte, war 99 Jahre alt! Was ist das für eine Bestie, der eine junge Frau, die seine Ur-ur-enkelin sein könnte, misshandelt und vergewaltigt? Er wiederum verkaufte sie später an einen Mann mit Buckel und ohne jeglichen Zahn im Mund. Hoche war ein Jahr im Schingal-Gebirge, ein Jahr in Mossul und dann in Syrien. Bei einem der Orte ihrer Gefangenschaft hat es fünf Monate gedauert, bis sie die Sonne wieder sah. Sie wurde mit zwei weiteren Frauen in einem Haus festgehalten, in dem die Fensterscheiben schwarz gestrichen waren, damit man von außen nicht ins Haus sehen kann. Ein Mal hat sie selber erlebt, wie eine Frau für den Wert einer Zigarettenpackung verkauft wurde. Noch nicht einmal in der Antike waren Menschen beim Sklavenverkauf so wenig Wert. Eine andere Frau war doch dem Käufer 15 Millionen irakische Dinar Wert. Der Preis hängt vom Alter und der Schönheit ab. Neben den mehrfachen Vergewaltigungen wurde Hoche geschlagen und schlimm misshandelt. Dieses Leben war nicht mehr auszuhalten, deshalb hat sie sieben Mal versucht, sich das Leben zu nehmen. Ihre Verwandten aus dem irakischen Kurdistan sammelten Geld und schafften es vor kurzem, sie freizukaufen. Bevor sie nach Kurdistan gebracht wurde, kam sie ins syrische Kobane.

Ihre 13-jährige Schwester Sadina war nur ein kleines Mädchen, als sie entführt und versklavt wurde. Sie spricht nur sehr schüchtern über ihr Schicksal. Sie lebte lediglich in Syrien und wurde fünf Mal an syrische Männer verkauft. Der älteste Mann, der sie zur Sexsklavin nahm, war 37 Jahre alt. Er hätte ihr Vater sein können… Auch sie, wie alle anderen Frauen, musste zu Allah beten und im Ramadan fasten. Ein Mal hat sie versucht zu flüchten, wurde aber gefasst und mit Schlägen bestraft. Der zweite Fluchtversuch Anfang Dezember gelang. Man brachte sie nach Kobane. Dort war sie ganze zwei Tage mit ihrer Schwester Hoche im gleichen Haus, doch sie erkannten sich nicht. Erst nach zwei Tagen, als sie sich gegenseitig fragten, wer die Eltern und Geschwister sind, merkten sie, dass sie Schwestern sind und konnten sich vor Freude in die Arme fallen. Gemeinsam wurden sie nach Kurdistan zur Mutter ins Lager Esyan gebracht. Sadina kann noch nicht in die Lagerschule gehen. Wie auch? Noch ist es zu früh für dieses traumatisierte Mädchen.

Ob sie jemals einen Mann aus Liebe heiraten können werden? "Es ist Gottes Wille", ist die Antwort. Ob sie Moslems wegen ihrer schrecklichen Erlebnisse hassen? "Im Grunde ja", kam schnell zurück. Beim Nachdenken wissen sie aber alle – auch die Mutter – dass es auch gute Moslems gibt, die nicht so denken und handeln wie ihre IS-Peiniger. Hoffentlich werden sie eines Tages in der Lage sein, in der moslemischen Mehrheitsgesellschaft, ob in Kurdistan oder eines Tages zurück im Schingal-Gebirge, ohne Angst und Hass zu leben. Bis zur Verzeihung und Versöhnung wird es ein langer Weg sein, der vielleicht niemals gegangen wird. Sie baten darum, dass Geld gesammelt wird, damit die anderen Jesidinnen und Jesiden, die in den Fängen des IS sind, freigekauft werden. Es sind immer noch weit über 3.000 jesidische Frauen, Männer und Kinder in der Gewalt des IS. Kann man guten Gewissens den IS-Verbrechern mehrere Tausend Dollar zum Freikauf dieser geschundenen Menschen geben? Kann man wiederum tatenlos weghören oder strikt diese finanzielle Hilfe ablehnen, wenn man Kenntnis von solchen Verbrechen gegen die Menschlichkeit bekommt? Die Antwort bleibt jedem überlassen.

Wer Interesse für mehr Informationen hat, kann mich kontaktieren. Sie können diesen Text, wenn er Sie berührt hat, weiterverbreiten.

Es erfüllte mich mit Scham, Hoche und Sadina heute in ihrem kalten Zelt im Lager Esyan besucht und kennenglernt zu haben. Wie gut wir es in Europa haben…

Mehr:
Pressemitteilung: Aufnahme der misshandelten Jesiden aus dem Irak durch das Land Brandenburg lässt noch auf sich warten

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  • Quelle: red | Foto: Privat
  • Erstellt am 29.12.2017 - 12:33Uhr | Zuletzt geändert am 29.12.2017 - 12:33Uhr
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