Ein Drehteil sorgt für Erinnerungen

Ein Drehteil sorgt für ErinnerungenWeißwasser, 31. Mai 2021. Von Thomas Beier. Vor einigen Tagen brach unter mir ein hölzerner Gartenstuhl zusammen. Die Ursache war schnell gefunden: Nicht etwa die Leibesfülle hatte zu einer statischen Überlastung geführt, sondern es hatte sich eine simple Verschraubung gelöst.

Abb.: Typische Verschraubung, wie sie an Gelenken von Holzgartenstühlen verwendet wird. Geht so ein Teil verloren, kann Ersatz im Handel kaum beschafft werden
Foto: © BeierMedia.de
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Sozialistisches Wirtschaften und kapitalistisches: der Unterschied

So ein Problem sollte schnell behoben sein – eigentlich. Doch die Messingschraube und die zugehörige Mutter, besser gesagt ein langer Bolzen mit Innengewinde, waren speziell angefertigte Drehteile aus Messing und die Mutter war spurlos verschwunden, vermutlich bei der letzten Reinigungsaktion im Pavillon ordentlich entsorgt.

Als ich überlegte, wie das Problem nun zu beheben sei, fiel mir ein Erlebnis aus meiner Kindheit ein, nämlich die Situation, als mir mein Vater den Unterschied zwischen einem Unternehmen im Sozialismus und einem im Kapitalismus erklärte. Dazu muss ich ein wenig ausholen:

Aufgewachsen bin ich in Schwarzenberg im sächsischen Erzgebirge – es gibt nämlich auch ein böhmisches Erzgebirge, die Krušné hory. Dieses Schwarzenberg ist heute bekannt als das bei Kriegsende 1945 zunächst unbesetzte Gebiet. Hier hatten engagierte Einwohner die Nazis selbst entmachtet und eine provisorische Verwaltung aufgebaut, woraus später die von Fakten durchzogene Legende der Freien Republik Schwarzenberg entstand. Deren basisdemokratischer Ansatz, wie ihn auch Stefan Heym in seinem Roman "Schwarzenberg" verarbeitet hat, irritiert bis heute Politiker aller Couleur.

Erinnerung an Fritz Wappler aus Sachsenfeld

Im Schwarzenberger Ortsteil Sachsenfeld gab es damals, tief in sozialistischen Zeiten, einen selbständigen, ja, was eigentlich? Schlosser, Werkzeugmacher, Mechaniker? Jedenfalls betrieb der Wappler, Fritz hier eine Metallwerkstatt und vollbrachte dort alles, bei dem andere abwinkten. Bei unserer Zündapp 201S war das Gewinde im Zylinderkopf kaputt. Der Fritz wusste Rat: Auf der Drehmaschine machte er einen Bolzen zurecht, den er in das vorher ausgebohrte Gewinde einpresste. Das hält übrigens bis heute.

Was hat das nun mit dem Unterschied zwischen sozialistischem und kapitalistischem Wirtschaften zu tun? Wenn man die Werkstatt betrat, war der Fritz Wappler immer an der Arbeit, aber nicht nur das: Meist liefen parallel dazu noch zwei Maschinen, die man weitgehend unbeaufsichtigt werkeln lassen konnte. Eine davon war eine Metallsäge, die über einen Motor und einen Exzenter angetrieben wurde. Abzusägen war schließlich immer etwas. Die andere Maschine war eine große Drehmaschine. Auf der drehte der Fritz die Bremstrommeln für die Traktoren der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft aus. Dadurch wurden diese aufgearbeitet und konnten wiederverwendet werden. Die Drehmaschine – wer sich ein wenig auskennt, eine Leit- und Zugspindel-Drehmaschine – lief so langsam, dass man nur alle paar Minuten einen Blick darauf werfen musste, wie weit sie denn ist.

In einem Volkseigenen Betrieb (VEB) wären den gleichen Arbeiten wohl zwei oder drei Leute beschäftigt gewesen. Die waren gewiss nicht faul, doch das Wirtschaftssystem macht sie unproduktiv, während der selbständige Unternehmer schon aus kapitalistischem Eigeninteresse auch mitten im Sozialismus auf die Maschinenauslastung in seiner Werkstatt achtete.

Freitag nach eins macht jeder seins!

In der volkseigenen Wirtschaft jedoch gab es hinsichtlich der Produktivität allerdings eine Ausnahme: am Freitagnachmittag stieg sie regelmäßig an. Dann galt in den VEB-Werkstätten die Parole “Freitag nach eins macht jeder seins!” und es wurde hergestellt, was im Handel nicht beschaffbar oder zu teuer war. Beliebt war etwa die Produktion von Holzkohlegrills, aber sogar Autoersatzteile entstanden. Noch heute muss ich grinsen, wenn ich in Schwarzenberg unterwegs bin und die vielen Dacheinfassungen aus Edelstahl sehe. Im VEB Waschgerätewerk wurde viel Edelstahl verarbeitet, es war also naheliegend, dass freitags nach eins die benötigten Dacheinfassungen in Eigeninitiative entstanden.

Sicher wäre meine verlorengegangene Gartenstuhl-Schraube auch so ein Freitagnachmittagsprojekt im Werkzeugbau meines damaligen Arbeitgebers gewesen. Heute ist alles anders, nur in wenigen Fällen erlauben Arbeitgeber ihren Mitarbeitern das Pfuschen, wie man die Privatarbeiten nannte. Die Geschichte um den verlorenen Innengewindebolzen, dieses kleine Drehteil, ging aber gut aus: Als 1991 in Görlitz das Feinoptische Werk – die Meyer-Optik – aufgelöst wurde, habe ich mir eine der Feinmechaniker-Drehbänke zum Schrottwert gekauft. Und, der Zufall will’s, am Freitagnachmittag damit einen neuen Bolzen angefertigt.

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  • Quelle: Thomas Beier | Foto: © BeierMedia.de
  • Erstellt am 31.05.2021 - 11:50Uhr | Zuletzt geändert am 31.05.2021 - 12:16Uhr
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